Blicken wir über die Stadt nach Süden, auf der Anhöhe von Montmartre stehend. Es ist März 1875, der Monat der Uraufführung von Carmen. Hier oben begann vor vier Jahren die Katastrophe, und Georges Bizet hätte sie vielleicht nicht überlebt, wäre er in Paris geblieben, als Nationalgardist und gar noch in seiner Uniform. Vor uns auf dem Hügel standen die 227 Kanonen… Aber dazu kommen wir gleich. Links von uns am Hang ist die Windmühle, die später auch van Gogh gemalt hat. Das flache Satteldach unten im Dächermeer ist die Madeleine, die Kirche, deren Titularorganist schon seit 17 Jahren Camille Saint-Saëns ist. Ein Stück weiter hinten ragt wie ein mastenloses Schiff die ungeheure Masse des neuen Opernhauses, der Opéra Garnier, aus dem Dächermeer. Anfang des Jahres wurde sie eröffnet. Die Salle Favart, das Haus der Opéra Comique, in der Carmen uraufgeführt wurde, können wir von hier aus nicht sehen, und ein paar andere Gebäude könnten wir schon deswegen nicht finden, weil sie vor vier Jahren niederbrannten. Auf den Eiffelturm müssen wir noch vierzehn Jahre warten.
Wer wissen will, was das für eine Stadt ist, in der Carmen ihren Anfang nimmt, von der ersten Konzeption bis zur Uraufführung, kommt um das Trauma nicht herum, das Paris wenige Jahre zuvor erlitten hat, ein beispielloses Gemetzel mit zehntausenden von Toten. Wie alle Grausamkeiten bis heute hat es seine Vorgeschichte. Im Sommer 1870, als Georges Bizet und seine Frau Geneviève Ferien in Barbizon machen, wo Corot und Courbet die Landschaft malen, stolpert Napoleon III. in einen Krieg mit Preussen und seinen Verbündeten, der zur Niederlage Frankreichs, dem Ende des Zweiten Kaiserreichs und zur Belagerung der Stadt Paris führt.
Am 18. September ist der Ring geschlossen, die 1,8-Millionen-Stadt mit ihren elf Bahnhöfen von aller Versorgung abgeschnitten wie auch von der Telegrafie. Im Oktober wird selbst Pferdefleisch zur Delikatesse, im Dezember werden die beiden Elefanten des Zoos geschlachtet, man mariniert inzwischen auch Ratten. Die Deutschen feuern täglich bis zu 400 Geschosse auf die Stadt. Im Januar verschwinden nach den Bäumen des Bois de Boulogne und der Boulevards auch die Ulmen der Champs-Élysées als Brennholz in den Pariser Öfen. Derweil lässt sich, mit teutonischem Feingefühl, ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles Wilhelm I. zum Kaiser des neugründeten deutschen Reichs ausrufen – eine Demütigung, der am 28. Januar der Waffenstillstand folgt, die Kapitulation von Paris, und am 1. März 1871 das Defilee der deutschen Truppen auf den Champs-Élysées. Mit dabei gewesen sein muss Georges Bizet, der als begeisterter Republikaner schon im September der Nationalgarde der neuen, Dritten Republik beitrat. «Wir haben bei dieser traurigen Gelegenheit unsere Pflicht getan. Mit dem ersten Trommelschlag um 8 Uhr morgens nahmen wir unsere Gewehre und formierten uns zum cordon sanitaire um unsere Feinde.» Aber es sind – schon am nächsten Tag verschwinden die Deutschen wieder aus der Stadt – nicht nur diese Feinde, denen sich das folgende Inferno verdankt.
Die Wahlen zur Nationalversammlung haben im Februar 1871 Frankreichs monarchistische Rechte an die Macht gebracht, während die Pariser mehrheitlich republikanisch gesinnt sind und den Waffenstillstand als Verrat sehen. Die Nationalversammlung nimmt ihren Sitz vorerst in Versailles, wo der 73-jährige Regierungschef Adolphe Thiers mit harten Erlässen viele Pariser in die Armut treibt und dazu noch beschliesst, die 227 Kanonen abtransportieren zu lassen, die auf dem Hügel von Montmartre stehen. Kanonen, die aus dem Westen der Stadt von den Parisern – ohne Pferde! – hierher geschleppt wurden, um sie vor der Beschlagnahme durch die Deutschen zu sichern. So, wie sie jetzt stehen, haben sie nur symbolischen Wert. Aber auf den kommt es Thiers an. «Damit», notiert Victor Hugo, «hat er den Funken aufs Pulver geworfen.»
Die Abholung der Kanonen am 18. März scheitert, die Regierungssoldaten fraternisieren mit der aufgebrachten Menge, zwei Generäle werden erschossen, man baut Barrikaden. Bizet ist indessen entsetzt von der Zurückhaltung der Nationalgarden. Seinem Brief vom 20. März zufolge gehört er zu jenen 5.000 von 300.000 Nationalgardisten, die bereit wären, für Ordnung zu sorgen, zugleich begrüsst er den Rückzug der Armee. Die Mehrzahl der Pariser – Arbeiter und Handwerker – wählt am 26. März eine linke Stadtregierung, die von nun an praktisch gegen Versailles regiert. In der «Commune», so heisst das Gemeinwesen nun, werden zur Linderung der Not vorübergehend die Mieten aufgehoben, es soll kostenlosen Grundschulunterricht geben, eine Berufsschule für Mädchen eröffnet werden, die Gleichberechtigung der Frauen wird diskutiert. Grossbürger und Unternehmer verlassen die Stadt, auch die Bizets. So bleibt ihnen die «blutige Woche» erspart. Mit 100.000 zusätzlichen Soldaten, die Bismarck rechtzeitig aus der Kriegsgefangenschaft entlassen hat, gelingt den Versailler Truppen am 21. Mai der Durchbruch in die Stadt. Paris ist umgeben von jenem Mauerring, den Thiers selbst als Ministerpräsident der Julimonarchie bis 1844 errichten liess und innerhalb dessen die Ringeisenbahn verläuft. Dann beginnt, Barrikade um Barrikade, ein Kampf um Paris, der auf Seiten der Eroberer in ein Gemetzel umschlägt. Gefangene Nationalgardisten werden von den Regierungssoldaten erschossen, mit Säbeln zerhackt, totgeschlagen. Bald wird jeder umgebracht, der irgendwie auffällt. In ihrer Verzweiflung ermorden die Kommunarden 85 Geiseln, darunter den Erzbischof von Paris.
Die Vergeltung ist umso schlimmer. Es kommt zu Massenhinrichtungen, nach Schätzungen sind es bis zu 30.000 Tote. Manche Strassen sind wegen der Leichenberge unpassierbar. Der Gestank der Verwesung mischt sich mit dem Rauch der Brände. Um die Angreifer zu stoppen, haben die Kommunarden ganze Häuserzeilen eingeäschert, viele prominente Gebäude fallen der Zerstörungswut beider Seiten zum Opfer oder dem Artilleriebeschuss. «Der letzte Kanonenschuss ist am gestrigen Sonntag abgefeuert worden, um halb drei», schreibt Bizet am 29. Mai an seine Schwiegermutter in Bordeaux, Hannah Léonie Halévy, im selben Brief kritisiert er Presseberichte über Gräueltaten der Kommunarden als Erfindung einer «abscheulichen Brut von Journalisten». Er und Geneviève befinden sich noch in Le Vésinet, zwölf Kilometer westlich von Paris, wo der Vater des Komponisten zwei kleine Sommerhäuser besitzt. Am selben Tag notiert Émile Zola in Paris: «Man befürchtet Pest und Cholera, selbst wenn all diese Leichen auf den bereits bestehenden Friedhöfen beerdigt würden. Man sagte mir sogar, dass an mehreren Stellen auf den Boulevards und in allen Avenuen, die man aufreissen konnte, Tote begraben wurden. Ich weiss nicht, ob diese Leichen dort bleiben werden, unter den Füssen der Spaziergänger, deren fröhliche Stimmen sie an den öffentlichen Feiertagen über ihren Köpfen hören würden.»
Indessen geht die Vergeltung weiter: 43.000 Männer, Frauen und Kinder werden inhaftiert, tausende verurteilt (der Vater von Claude Debussy bleibt bis 1875 im Gefängnis) und in entfernteste Kolonien deportiert. Bizet stellt erleichtert fest: «Unser Haus hat eine Menge Kugeln abbekommen, aber unsere Wohnung ist völlig unversehrt.» Sehr fröhlich sind die Pariser nicht im Sommer nach dem Blutbad, wie Gustave Flaubert beobachtet: «Die eine Hälfte der Bevölkerung hat Lust, die andere zu erwürgen, welche denselben Wunsch hegt. Das ist klar in den Augen der Passanten zu lesen.» Bizet, der nichts so fürchtet wie eine katholische Monarchie, klammert sich «mit der Energie der Verzweiflung» an Adolphe Thiers, diesen «energischen kleinen alten Mann. Er allein kann zugleich die Kommunarden und die Reaktionäre scheitern lassen.» Tatsächlich wird Thiers erster Präsident der Dritten Republik, während in Paris die «Normalität» in einem Tempo wiederhergestellt wird, als habe man nur einen bedauerlichen Zwischenfall hinter sich. Für Kontinuität bürgt schon der unter Napoleon III. begonnene Umbau der Stadt nach den Plänen Haussmanns, der nun fortgesetzt wird, ergänzt durch Reparatur, Abriss oder Neuerrichtung der niedergebrannten Gebäude. Während Kohorten von englischen Touristen anreisen, um die Ruinen zu bestaunen, fasst der New Paris Guide das Geschehen ganz im Sinne der regierungstreuen «Geschichtssschreibung» zusammen: «Paris hat schwer gelitten durch die überwältigenden Ereignisse von 1870 und mehr noch durch die Grausamkeiten der Commune. Dennoch hat die Stadt in unglaublich kurzer Zeit ihre Verluste wieder wettgemacht.»
Ganz so einfach ist es für Georges Bizet nicht. Die Opéra Comique beauftragt ihn nicht, wie vor dem Krieg geplant, mit einer abendfüllenden Oper – es wäre seine dritte nach den Perlenfischern und der Schönen von Perth, beides keine Erfolge für einen, der als Wunderkind begann und als Komponist alle verfügbaren Preise abräumte, und man einigt sich auf den Einakter Djamileh. Das Stück knüpft an den seit Jahrzehnten beliebten Orientalismus an, lässt eine Sklavin in Liebe zu ihrem Gebieter entbrennen und bringt es bis 1875 doch nur auf elf Vorstellungen. Bizet verdient sein Geld mit Arrangements, Gelegenheitskompositionen und Kurzzeitjobs und erhält seine nächste Bühnenchance als Zulieferer für ein Theaterstück von Alphonse Daudet.
Obwohl man auch hier auf Exotismus setzt – für Pariser ist die Provence als Schauplatz «fast so fremdartig wie Spanien und Ägypten» (Winton Dean) – wird L’Arlesienne im Oktober 1872 ein Fiasko, und Daudet schreibt fortan nur noch Romane. Die Bühnenmusik aber, die Bizet für das 26-köpfige Orchesterchen des Théâtre du Vaudeville komponiert hat, lässt so aufhorchen, dass Jules Pasdeloup die Stücke, zur Suite verbunden, im Cirque d’Hiver mit grossem Orchester realisiert – dieser Kuppelbau im 11. Arrondissement hat 3.900 Plätze. Es folgen weitere Aufführungen, die einschlagen. Es ist, als habe der 33-jährige Komponist einen neuen, unmittelbaren Ton gerade deswegen gefunden, weil er frei von dem Druck war, ein Meisterwerk schaffen zu müssen.
Für diesen neuen Sound haben die beiden Manager der Opéra Comique einen Sinn, so verschieden sie sind. Adolphe de Leuven, 72 Jahre alt, leitet das Haus schon seit 1862, seit 1870 ist der halb so alte Camille du Locle an seiner Seite, und nun wollen sie es doch mit einer grossen Oper von Bizet riskieren. Dabei spielen wie immer und überall und besonders in Paris Beziehungen eine Rolle. Als Librettisten schlägt du Locle seinen Freund Ludovic Halévy vor, der zugleich der Neffe von Bizets Schwiegervater und Kompositionslehrer Fromental Halévy ist und der vor allem, zusammen mit Henri Meilhac, das erfolgreichste Autorenduo des Operettenkönigs Jacques Offenbach bildet – von La Belle Hélène über La Grande-Duchesse de Gérolstein bis zu La Périchole. Gerade haben sie La Vie parisienne von 1866 wieder aufgewärmt, aber es zeichnet sich 1872 schon ab, was Halévy drei Jahre später diagnostiziert: «Offenbach, Meilhac und ich – wir sind am Ende, das ist die Wahrheit… Es fällt uns nichts mehr ein.» Offenbachs grosse Zeit ist mit dem Kaiserreich dahingegangen. Es fehlt mit Napoleon III. das schillernde Zentrum der Macht, das die Spottlust inspiriert, und der Pariser Sinn für Ironie lässt sich nach dem Blutbad nicht neu aufbauen wie das niedergebrannte Rathaus. Es reizt die beiden Autoren, mit Bizet, einem fähigen Komponisten aus ihrer eigenen Generation, den 1830ern, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Aber was?
In der Liebe der Pariser zu exotischen Schauplätzen hat Spanien schon seit langem einen Platz, aber Mitte der 1870er, so Orlando Figes, «erreichte das französische kulturelle Interesse an Spanien seinen Höhepunkt», nicht zuletzt als Abwendung von den Deutschen. Und in der Mitte des musikalischen Interesses am südwestlichen Nachbarland befindet sich der Salon von Pauline Viardot in der rue de Douai 50, wenige Schritte von der Nummer 22 entfernt, in der Georges und Geneviève Bizet wohnen und wo im Sommer 1872 ihr Sohn Jacques zur Welt gekommen ist; im selben Haus wohnt auch Ludovic Halévy, der künftige Carmen-Librettist. Auch bei den Viardots erwies sich alles als unbeschädigt, als sie aus London zurückkehrten, wo sie die Ereignisse abgewartet hatten. Im Dachgeschoss ihres zweistöckigen Baus erhielt nun Iwan Turgenew zwei Zimmer, der russische Romancier, der mit Pauline und ihrem um 20 Jahre älteren Ehemann Louis schon lange in einer ménage à trois lebt. Auch Bizet besucht die Donnerstagabende, an denen Pauline, geborene García, Tochter spanischer Sänger, Mezzosopranistin, Komponistin, Kosmopolitin, nahezu allen in Paris tätigen Komponisten seit Rossini verbunden, neue oder rare Musik aufführen lässt und selbst singt. Was bei ihr an spanischer Folklore wie auch Kunstmusik zu hören ist, inspiriert Édouard Lalo und Camille Saint-Saëns; Bizet ist besonders von einer Habanera beeindruckt, «El arreglito», aus der er Carmens Arie «L’amourest un oiseau rebelle» machen wird. Aber wie kommt er auf Carmen, die Novelle von Prosper Mérimée, die seit 1847 in mehreren Auflagen erfolgreich war? Ludovic Halévy erinnert sich, Bizet sei selbst darauf gekommen. Doch von Émile Zola wissen wir, dass Turgenew seinen Kollegen Mérimée bewunderte und ihn sogar gegen Flauberts Geringschätzung verteidigte. Gut möglich, dass er Bizet den Tipp gab.
«Carmen! Die Carmen von Mérimée! Die von ihrem Geliebten ermordet wird? Und dieses Milieu der Diebe, der Zigeunerinnen, der Zigarettenarbeiterinnen! An der Opéra Comique, dem Theater der Familien!» Adolphe de Leuven, der ältere der beiden Theaterchefs, ist entsetzt, als Librettist Halévy mit seinem Vorschlag kommt. An jedem Abend, erklärt er ihm, seien fünf bis sechs Logen reserviert für Treffen junger Damen und Herren, die eine Ehe erwägen. Die Hälfte aller Logen verfügt über einen eigenen kleinen Salon fürs Private zwischen den Akten, die kosten acht Francs (was etwa 50 Euro entspricht), sämtliche Logen sind wie zu Kaisers Zeiten mit einer Klingelschnur versehen, damit man sich Erfrischungen bringen lassen kann. Wie eh und je dürfen im Parkett nur Herren sitzen. Und in so einem Haus soll nun die Titelheldin von ihrem Ex-Lover abgestochen werden, anstatt wenigstens den üblichen gewaltfreien Opfertod zu erleiden, so wie Juliette oder Violetta!
Der jüngere Opernchef Camille du Locle ist risikofreudiger, setzt sich durch und leitet ab 1873 das Haus allein. Er will die Lücke ausnutzen, die das Théâtre Lyrique hinterlassen hat, das Opernhaus nahe dem Hôtel de Ville, das bei den Kämpfen im März 1871 ebenfalls in Flammen aufging und zuvor mit gewagten Novitäten auffiel, von Berlioz’ Troyens über Gounods Roméo et Juliette bis zu Bizets Perlenfischern. Für die Musikgeschichte ist es fast ein Glück, dass in einer Oktobernacht 1873 gleich das nächste Opernhaus abbrennt, die prestigeträchtige Salle Le Peletier, zuständig für Grand Opéra, historische Stoffe, Staatsbesuche. Ursache des Brandes ist möglicherweise die einst so innovative Gasbeleuchtung. Eine Folge ist, dass Georges Bizet die Arbeit an einer Oper abbricht, mit der ihn dieses Haus beauftragt hatte und die seiner Arbeit an Carmen im Weg war – wobei er Don Rodrigue wichtiger fand.
Noch ein Ausfall, der zum Glücksfall wird: Die ursprünglich vorgesehene Marie Roze lehnt die Partie einer Titelheldin ab, die am Ende ermordet wird, und so wird schon Ende 1873 Célestine Galli-Marié verpflichtet, 35 Jahre alt, ein Liebling des Pariser Publikums und in ihrer Abenteuerlust der Carmen so ähnlich, dass der Komponist ihr während der Arbeit wohl ähnlich nahe kommt wie zu gleicher Zeit seine Frau dem schillernden Klaviervirtuosen Élie-Miriam Delaborde, dem Sohn des eigensinnigen Chopin-Vertrauten Charles Valentin Alkan. Aber auch die Entschlossenheit Carmens bringt ihre Darstellerin mit. Als Opernchef du Locle auf den letzten Metern doch noch kalte Füsse bekommt und auf einem unblutigen Schluss besteht, droht Galli-Marié – gemeinsam mit dem Sänger des Don José –, die ganze Produktion platzen zu lassen. Das wirkt.
Das offizielle Opernhauptereignis des Jahres 1875 findet am 5. Januar statt. Im prachtvollen Palais Garnier, nach vierzehn Jahren Bauzeit fertiggestellt, drängen sich «die Begünstigten und Begüterten, für die dieser Palast geschaffen war». Eine einfache Loge kostet an diesem Abend 120 Francs. In der Hofloge, ursprünglich für Napoleon III. bestimmt, nimmt Marschall Mac-Mahon Platz, als Präsident der Dritten Republik Nachfolger von Adolphe Thiers. Er ist jener Monarchist, der 1871 die Truppen von Versailles bei der Vernichtung der Commune befehligt hatte. Man wohnt einem Galaabend mit bewährten Szenen aus Werken von Meyerbeer und Delibes bei. Das wahre Opernereignis zwei Monate später, am 3. März in der Opéra Comique, ist zuerst ein Flop, wenngleich ein prominent besuchter. Natürlich sind die Viardots und Turgenew gekommen, aber auch Jacques Offenbach und seine Stardarstellerin Hortense Schneider, die Komponisten Gounod und Massenet, Alexandre Dumas der Jüngere und noch zwei Dutzend Kulturzelebritäten. Im ersten Akt von Carmen sind die Leute noch begeistert, im vierten Akt herrscht eisige Ablehnung, so erinnert sich Ludovic Halévy, der den traurigen Komponisten nach Hause begleitet, 20 Minuten bis zur rue de Douai, zu Fuss und schweigend.
«Der krankhafte Zustand dieser Unglücklichen, die ohne Unterlass und ohne Gnade der Glut des Fleisches ausgesetzt ist, ist ein glücklicherweise sehr seltener Fall, der eher die Sorge der Ärzte weckt als das Interesse ehrbarer Zuschauer, die mit ihren Frauen und Töchtern in die Opéra Comique gekommen sind.» Was am 8. März 1875 in Le siècle zu lesen ist, wo der 54-jährige Oscar Commetant den Komponisten auf bedauerlichem Irrweg sieht, das entspricht dem Mainstream der bürgerlichen Presse – aber es hält die Leute keineswegs vom Besuch der neuen Oper ab. Carmen füllt das Haus, und schon bis Ende Mai gibt es 33 Vorstellungen. Dann erleidet der 36-jährige Georges Bizet, der sich von Probenstress und Enttäuschung nicht erholt hat, in seinem Sommerhaus in Bougival, dort, wo er Carmen vollendete, einen tödlichen Herzanfall.
Keine zwei Wochen später wird der Grundstein für Sacré-Cœur gelegt, für dieses Monument eines katholischen, reaktionären Frankreich, und zwar genau dort, wo der Aufstand der Pariser am 18. März 1871 begann, als die 227 Kanonen abgeholt werden sollten. Und genau dort, wo im Mai jenes Jahres «neunundvierzig Menschen, darunter drei Frauen und vier Kinder, zusammengetrieben und am Todesort der beiden Generäle kniend erschossen» wurden. In langen Jahrzehnten wächst dann dieser gewaltige Zuckerstöpsel auf einem Meer von Blut in die Höhe. Weitaus schneller aber wächst der Ruhm von Carmen, dieser Oper, die fern der besseren Gesellschaft spielt und keinen in die Illusion entlässt, es sei doch noch alles gut gegangen. Eine Oper, die in all ihrer Intensität nur in diesen Jahren nach 1871 entstehen konnte.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 110, April 2024.
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