Cathy, als Choreografin eilt dir der Ruf einer Geschichtenerzählerin voraus. Anspruchsvollste literarische Vorlagen wie Jane Eyre, Gefährliche Liebschaften oder Von Mäusen und Menschen hast du für die Ballettbühne erschlossen. Wann weisst du, dass sich eine Geschichte für eine Ballett-Adaption eignet?
Tatsächlich spüre ich schon beim ersten Lesen, ob eine Buchvorlage über erzählerisches Potenzial für den Tanz verfügt. Nicht, dass sofort Ballettbilder entstehen würden, aber ich fühle es körperlich und emotional. Es muss einen Raum zwischen dem Gesagten und der Emotionalität geben, die es auslöst. In Jane Eyre ist das z. B. die Szene, in der Rochester von Jane aus seinem brennenden Bett gerettet wird. Da weiss ich sofort, dass ich mit Tanz einen Zugang in diesen Raum finden kann. Und auch in Ian McEwans Atonement gab es immer wieder solche Momente.
Woher kommt deine Begeisterung für die Literatur, und wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?
Meine Eltern waren Englischlehrer. Als Kind haben sie mir viele Geschichten vorgelesen und mich selbst zum Lesen animiert. Wir sind viel ins Theater gegangen, und schon früh haben mich erzählerische Ballette fasziniert. Swansong von Christopher Bruce war so ein Stück. Drei Menschen und ein Stuhl sind da in einer nervenzerreibenden Verhörszene zusammengespannt. Aber auch Kenneth MacMillans Romeo und Julia, Frederick Ashtons Marguerite and Armand oder Mats Eks Carmen waren prägende Eindrücke für mich. Neben den Geschichten als solchen hat mich immer sofort der Prozess der choreografischen Transformation interessiert. Wie kann ich eine Geschichte in Tanz verwandeln?
Atonement nach dem berühmten Buch von Ian McEwan ist dein erstes Handlungsballett, das du als neue Direktorin des Balletts Zürich für deine Compagnie kreierst. Warum ist deine Wahl auf Ian McEwans Roman gefallen?
Mein Engagement als Ballettdirektorin war ursprünglich befristet und ohne eine längerfristige Perspektive gedacht. Ich habe mich also gefragt, was ich in einem Zeitraum von zwei Jahren mit dem Ballett Zürich bewegen könnte. Ich erinnerte mich an ein Projekt, das ich schon seit Jahren an einem sehr guten Haus mit herausragenden Tänzerinnen und Tänzern realisieren wollte. Der Moment für Atonement schien gekommen. Für manche Dinge muss man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Umso schöner, dass Atonement nun kein Einzelprojekt mit dem Ballett Zürich bleiben wird.
Ian McEwan thematisiert in seinem Roman das Verhältnis von Fiktion und Leben, Kunst und Realität. Ist das das richtige Thema für ein Ballett?
Die sehr dünne Membran zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem eigenen Selbst und dem, was man kreiert, ist ein grosses Thema im künstlerischen Schaffensprozess. Wenn ich eine Geschichte erzählen will, ist meine Person in diesem Zusammenhang eigentlich völlig nebensächlich. Trotzdem bin ich aufs Engste mit der Geschichte verwoben. Das Thema beschäftigt mich also jeden Tag.
Ian McEwan zeigt das in seinem Buch am Beispiel seiner Hauptfigur, der Schriftstellerin Briony Tallis, die für die Geschichte in ihrem Roman unablässig ganz subjektive Entscheidungen fällt: Welchen Elementen des Geschehens widmet sie besondere Aufmerksamkeit, welche Schlüsse lassen ihre Entscheidungen beim Leser zu, in welchem Licht erscheint sie angesichts des Erzählten als Autorin? Bei einer Ballettadaption musst du dich auch mit genau diesen Fragen auseinandersetzen…
Seitdem ich in der Schweiz lebe, hat sich mein Gefühl für «Romantreue» sehr verändert und hat nichts mit dem reinen Nacherzählen einer literarischen Vorlage zu tun, bei dem man sich irgendwie von einer Episode zur nächsten hangelt. Ian McEwan erzählt in Atonement die Geschichte einer Schriftstellerin. In meiner Adaption wird Briony Tallis zur Choreografin, aber das ist keine so radikale Umdeutung, wie man vielleicht denken könnte. Für mich haben Schreiben und Choreografieren sehr viel miteinander zu tun. Es sind ähnliche Akte, nur, dass nun Bewegungen und Schritte an die Stelle der Worte treten. Was die zeitliche Verankerung des Ganzen, das Handlungsgeflecht und die Personenkonstellation angeht, sind mein langjähriger Mitarbeiter Edward Kemp und ich in unserem Szenarium sehr dicht am Original der Vorlage geblieben.
Briony Tallis lernen wir bei Ian McEwan als pubertierende Möchtegern-Schriftstellerin kennen und begegnen ihr am Ende als erfolgreiche, preisgekrönte Autorin wieder. Du hast es schon angedeutet: Eine Schriftstellerin auf der Ballettbühne ist ein gewagtes Unterfangen, zumal ja auch der Akt des Schreibens an sich ein grundlegender Kernbestandteil des Buches ist. Wie verhältst du dich dazu?
Bereits in meinem Ballett Gefährliche Liebschaften musste ich mich mit der Problematik des Schreibens auseinandersetzen. Im Fall von Atonement erschien es mir logisch, den wesentlichen Aspekt von Brionys Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen: Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Sie imaginiert Welten, genau wie ich es als Choreografin tue. Warum lasse ich sie also nicht mit der Sprache sprechen, die wir in unserem Körper haben? Da McEwans Roman so historisch genau ist, musste ich allerdings überprüfen, ob diese Umdeutung plausibel und historisch unterfüttert werden kann.
Und was ist bei deinen Recherchen herausgekommen?
Ich bin auf Gillian Lynne gestossen. 1926 geboren, also etwa im gleichen Alter wie Briony Tallis im Buch, war sie Tänzerin im Vic-Wells Ballet, das im heutigen Sadler’s Wells Theatre, dem wichtigsten Tanzhaus in London, beheimatet war. Später tanzte Gillian Lynne auch im Royal Ballet. Man muss sich das vorstellen: Eine Tanzkarriere im Zweiten Weltkrieg! Tatsächlich gibt es Fotos aus dieser Zeit, auf denen man Ballerinas im Tutu und mit aufgesetzten Gasmasken sieht. Gillian Lynn ist später Choreografin geworden und hat für die Royal Shakespeare Company, das Royal Ballet und viele Produktionen im West End wie Cats oder The Phantom of the Opera choreografiert. Besonders bewegend für mich war ihr Ballett A Simple Man, das 1987 für das Northern Ballet entstanden ist. Gillian Lynne hätte durchaus ein Stück über ihr eigenes Leben choreografieren können. Für mich war das die Legitimation, Briony in meinem Ballett als Choreografin auftreten zu lassen.
Die Handlung des Romans erstreckt sich über den Zeitraum von etwa siebzig Jahren, Mitte der 30er- bis Ende der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Das waren Jahrzehnte einschneidender gesellschaftlicher Veränderungen. Ian McEwan erzählt das als eine intime Geschichte vor dem Hintergrund des Weltgeschehens, und wir werden Zeugen, wie eine solch epische Kulisse mit den Kleinigkeiten des Lebens der Menschen interagiert. Wie wirst du diesem historischen Panorama in deinem Ballett gerecht?
In einer meiner Lieblingsszenen im Buch stellt Briony die hölzernen Miniaturspielzeugtiere in ihrem Kinderzimmer so auf, dass sie alle in ihre Richtung schauen. Das Buch beginnt in dieser Kinderzimmerperspektive und eröffnet wenig später die epische Kulisse für die weltverändernden Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg. Unser Ballett ist ähnlich strukturiert. Der erste Akt ist kammerspielartig angelegt, die Tänzerinnen und Tänzer tragen Rollennamen, es gibt kein Corps de ballet. Alles, was hier verhandelt wird, muss bis in die kleinste Geste klar und erkennbar sein. Es gibt fast keine Abstraktion. Beinahe hat man den Eindruck eines Theaterstücks, das in der Abgeschiedenheit eines englischen Landsitzes in einer hermetisch abgeschlossenen Welt spielt. Michael Levine, unser Bühnenbildner, hat sich dafür von der Tapetenlandschaft in einer berühmten Amsterdamer Puppenhaus-Sammlung inspirieren lassen. Eine kostbare, fast idyllische Welt inmitten einer gepflegten englischen Gartenlandschaft. Der zweite Akt, der während des Zweiten Weltkrieges spielt, bringt dann die britischen Truppen, die Kriegsgefangenen und die Krankenschwestern in London auf die Bühne. Das sind grosse Aufgaben für die Mitglieder des Corps de ballet. So übersetzen wir die Massstäbe, die Ian McEwan in seinem Roman vorgibt, und das ist der Hintergrund, vor dem sich Briony als Choreografin entwickelt.
Das Klassensystem im England der 1930er-Jahre ist bei Ian McEwan ein grosses Thema.
Auch wenn der Zweite Weltkrieg dieses System ins Wanken gebracht hat und wir heute mit einer ganz anderen Art sozialer Mobilität konfrontiert sind, kann man die Auswirkungen in Grossbritannien bis heute spüren. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich nach Amerika oder Australien reise, wie unterschiedlich diese Gesellschaften funktionieren. Und das, obwohl wir die gleiche Sprache sprechen. Bei Ian McEwan sind es Cecilia und Robbie, die die Auswirkungen dieses Klassensystems am eigenen Leib erfahren. Die beiden geniessen die gleiche Ausbildung, leben auf dem gleichen Grundstück, und doch gibt es zwischen den beiden diese unausgesprochene Kluft: Robbie ist und bleibt der Sohn der Putzfrau, mit dem sich die Tochter aus vornehmem Haus lieber nicht einlassen sollte. Mit einer tänzerischen Umsetzung lässt sich das Phänomen gut erfassen. Wie so oft lassen sich diese unausgesprochenen Dinge eher in subtilen Handlungen und Körpersprache ausdrücken.
Indem sie den Freund ihrer Schwester Cecilia fälschlich einer Vergewaltigung beschuldigt und ihn damit ins Gefängnis bringt, lädt Briony Tallis schwere Schuld auf sich. Sie zerstört nicht nur das Leben von Cecilia und Robbie, auch sie selbst wird an dieser Verfehlung ein Leben lang zu tragen haben. Wie viel Verständnis hast du für die pubertierende Briony, bei der Realität und Fiktion, Erlebtes und Erfundenes mit so tragischen Folgen ineinanderfliessen?
Lange vor Ian McEwans Atonement hat mich ein Buch von L.P. Hartley in seinen Bann gezogen. Es heisst The Go-Between und ist die Geschichte eines Jungen, der seine Schwester mit einem Mann beim Sex überrascht. Ganz ähnlich wie Briony, die Cecilia und Robbie in der Bibliothek beobachtet. In beiden Fällen ist es eine ambivalente Erfahrung: Das Verlockende ist das Abstossende, das man um keinen Preis wissen will. Die Verwirrungen, die den Prozess des Erwachsenwerdens begleiten, sind ein faszinierendes Thema. Allzu oft machen wir uns absolut keine Vorstellung davon, wie sich die Erwachsenenwelt aus kindlicher Perspektive darstellt. Wir alle erleben den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Aber wie und auf welche Weise öffnet sich diese Tür? Das kann sanft, abrupt oder womöglich auch gewalttätig geschehen, mit unabsehbaren Folgen für unsere Psyche. Wer entscheidet über Schuld oder Unschuld eines Kindes, ab wann müssen wir die Verantwortung für unser Handeln übernehmen? Das habe ich mich bei Briony gefragt und komme gerade jetzt, während der Arbeit an der Choreografie, jeden Tag zu einer anderen Antwort. Ganz anders stellt sich die Frage, wenn ich Brionys Handeln als gereifte Künstlerin betrachte. Wie sie in ihren Kreationen geradezu gottgleich agiert und die Welt so gestaltet, wie sie sie haben willen. Auch in dem Bemühen, eigene Schuld zu relativieren und sich so vielleicht für einen Moment etwas besser zu fühlen. Als kreative Künstlerin kann ich mich aber auch selbst von dieser Art Schuld nicht völlig freimachen.
Wie ernst ist es Briony Tallis mit ihrem Wunsch nach Abbitte, Sühne, und Wiedergutmachung?
Sie weiss natürlich, dass sie etwas Unverzeihliches getan hat und dafür irgendeine Form der Busse finden muss. Aber Demut ist ihr fremd. Sie meint, ihrer Schuld mit einem kreativen Akt beikommen zu können. Mehr Egozentrik ist kaum möglich. Aber von der Realität des Jahres 2024 sind wird da nicht allzu weit entfernt. In den sozialen Medien werden wir heute jeden Tag Zeugen unglaublicher Selbstdarstellungen, in denen vermeintlich gelebtes Leben zur wirksamen Fotostory gerinnt.
Damit sind wir natürlich mitten in den grossen Themen von Ian McEwans Roman: Was ist das Leben? Das Leben an sich oder die Geschichte, die wir davon erzählen? Ist Schreiben ein Akt der Selbstberuhigung, bei dem ich die Macht habe, mit meinen Figuren das zu machen, was ich möchte? Für Briony gibt es keinen Gott, kein höheres Wesen, keine Institution, vor der sie sich verantworten müsste. Und niemanden, der ihr Absolution erteilen könnte…
Für mich stellt sich jetzt, wo ich das Ende des Balletts choreografiere, immer wieder die Frage, ob sich Briony tatsächlich wünscht, dass alles vorbei wäre. Kann eine Umarmung von Robbie und Cecilia ihr die Gewissheit verleihen, dass die beiden ihr verzeihen? Oder gefällt sie sich nicht viel mehr in der Rolle der Märtyrerin, der Aussenseiterin, der Unverstandenen? Vielleicht hat ja gerade auch das für sie eine gewisse Poesie.
Du hast von deinen eigenen Zweifeln als Künstlerin, als Choreografin, als Geschichtenerzählerin gesprochen. Wie lebst du damit?
In der Vergangenheit habe ich nicht nur fiktionale Stoffe auf die Bühne gebracht, sondern mich mehrfach auch mit Biografien real existierender Personen wie Queen Victoria, Jacqueline du Pré oder demnächst auch Clara Schumann beschäftigt. Natürlich versuche ich mich in die Lage dieser Personen hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Geschichten lassen sich aus vielen Blickwinkeln erzählen. Deshalb ist die Wahl der richtigen Perspektive jedes Mal eine grosse Entscheidung. Diese immense Verantwortung versuche ich mir immer wieder bewusst zu machen.
Die Musik zu Atonement hat die englische Komponistin Laura Rossi komponiert. Warum war sie die Richtige, die Musik für dieses Ballett zu schreiben?
Wenn ich ein Handlungsballett choreografiere, steht für mich erst einmal die Geschichte im Vordergrund und nicht die Musik. Der Arbeitsprozess beginnt mit der Entwicklung eines Szenariums, eines Librettos. Die passende Musik dazu lässt sich nicht einfach aus dem CD-Regal ziehen, sie soll sich passgenau mit der Geschichte und der Choreografie verbinden. Atonement ist nicht nur eine Zeitreise durch 70 Jahre, sondern auch eine emotionale Tour de force. Von der Dauer einer anderthalbstündigen Choreografie ganz abgesehen. Deshalb habe ich mich bei Filmkomponisten umgesehen und bin auf Laura Rossi gestossen, die nicht nur für die Leinwand, sondern auch für den Konzertsaal schreibt. Ihre Musik zu dem berühmten Film The Battle of the Somme hat meine Aufmerksamkeit geweckt. Der Film wurde in ganz Grossbritannien mit Lauras Musik gezeigt, die von verschiedenen Orchestern live musiziert wurde. Begeistert hat mich vor allem, wie Lauras Musik in einen Dialog mit den Bildern tritt und eine erzählende Rolle übernimmt. Aber auch, mit welch ausgeprägtem Sinn für Rhythmus und Melodie, Emotionen und Atmosphäre sie zu schreiben versteht.
Wie kann man sich eure Zusammenarbeit vorstellen?
Ich halte nichts davon, Komponisten ein komplettes Szenarium zur Vertonung auszuhändigen, das erst sie und später mich vor vollendete Tatsachen stellt. Laura Rossi und ich haben sehr eng zusammengearbeitet. Es war ein ständiger Dialog mit wöchentlichen Zoom-Meetings, bei denen wir im Detail an einzelnen Szenen und emotionalen Feineinstellungen für bestimmte Figuren oder Ereignisse gefeilt haben. So ist genau die Musik entstanden, die ich mir für jede einzelne Szene von Atonement wünsche.
Welche professionelle Entwicklung durchläuft die Choreografin Briony Tallis in deinem Ballett?
Von Brionys ersten choreografischen Versuchen sehen wir nur kurze Momente. Wie stellt sich ein kleines Mädchen Ballett vor? Vielleicht hat sie irgendwo eine Aufführung von Giselle erlebt. In ihrer etwas naiven Sicht ist die Welt von Archetypen bevölkert. Prinzen und Prinzessinnen stehen Helden und Schurken gegenüber. Brionys weitere Entwicklung als Choreografin ist mit ihrer Entwicklung als Persönlichkeit verknüpft. Die Elemente ihrer Biografie liefern die Inspiration für das, was sie in ihren Balletten auf die Bühne bringt. Der Abschied von Robbie und Cecilia, als er in den Krieg zieht, ist der Ausgangspunkt für einen Pas de deux, den Briony choreografiert. Das eigene Leben ist die Grundessenz für den Tanz, den sie entwickelt, aber immer wieder auch zerstört und neu erschafft. Alle handelnden Figuren sind in gewissem Sinn die Erfindungen Brionys, das ganze Ballett ist ihre Erfindung und Ausdruck ihrer Sicht auf die Welt. Je älter sie wird, desto mehr bewegt sich das Ganze in die Richtung tänzerischer Abstraktion.
Michael Levine als Bühnenbildner und Bregje van Balen als Kostümbildnerin vervollständigen unser Team. Was sind die Herausforderungen für die beiden?
Es war für Michael Levine und mich sehr wichtig, die alte, untergehende Welt der Privilegien und Klassengegensätze in eine passende Form zu übersetzen. Im Buch gibt es die berühmte Szene am Brunnen, wo Robbie eine antike Vase zerbricht. Im Ballett gibt es diese Szene nicht, aber uns schwebte vor, dass das ganze Bühnenbild selbst irgendwie wie ein teures Erbstück wirkt, dass zu Bruch geht. Deshalb erscheint die idyllische Landschaft, die wir am Anfang sehen, mit dem Eintritt in das Grauen des Zweiten Weltkriegs beschädigt, verschmiert und zerstört. Viel mehr als Farbe bleibt nicht übrig, zumal am Ende klar wird, dass alles ohnehin nur Schein und eine Erfindung war. Bregje van Balen hat die Geschichte mit den Kostümen für die Soldaten, die Gefangenen und die Krankenschwestern zeitlich eingefasst, ohne sie historisch zu genau zu verorten. Auch wie sie gerade im ersten Teil die einzelnen Figuren in ihrem Charakter mit ihren Kostümen ganz individuell erfasst, begeistert mich sehr.
Gehst du nun mit McEwans Buch unter dem Arm auch in den Ballettsaal?
An meine Literatur-Adaptionen gehe ich nicht mit dem Gedanken heran, dass ich klüger bin als das Buch. Atonement ist ein grossartiger Roman und kann völlig für sich stehen. Aber wenn ich spüre, dass es den schon erwähnten Raum für eine choreografische Nacherzählung gibt, versuche ich die Ideen des Autors in meine Erzählsprache zu übersetzen. Eine kurze Geste oder eine Bewegung können oft in einer halben Sekunde ausdrücken, wofür der Text mehrere Seiten benötigt. Auch in den Gruppenszenen kann man mit Tanz eine grosse Prägnanz und Genauigkeit erreichen. Ich stehe beim Choreografieren in einem ständigen Dialog mit Ian McEwans Buch. Ich bin inspiriert, besessen, fasziniert von der Geschichte und den Fragen, die sie aufwirft, und ich denke darüber in meiner Sprache nach.
Was hält denn Ian McEwan davon, dass sein Roman jetzt als Ballett auf die Bühne kommt?
Der Komponist Michael Berkeley, der das Libretto zu einer nicht realisierten McEwan-Oper verfasst hat, hat den Kontakt zu Ian McEwan hergestellt. Auf meinen Vorschlag, seinen Roman als Ballett auf die Bühne zu bringen, hat er sehr positiv und aufgeschlossen reagiert. Ich weiss nicht, wie oft er in seinem Leben mit Ballett in Verbindung gekommen ist, aber es scheint ihm keine völlig fremde Welt zu sein. Sehr grosszügig und vertrauensvoll hat er uns für die Inszenierung völlig freie Hand gelassen, und so wird Atonement nun das erste Ian McEwan-Ballett.
Unsere Inszenierung entsteht als Koproduktion mit dem Joffrey Ballet Chicago, und sie verdient diesen Namen auch wirklich…
In den letzten Jahren habe ich häufig für das Joffrey Ballet gearbeitet, und die Idee einer Koproduktion mit dem Ballett Zürich stiess in Chicago sofort auf offene Ohren. Schon im vorigen Sommer hatte ich Gelegenheit, mit den Joffrey-Tänzerinnen und -Tänzern Ideen zu entwickeln und einige Szenen zu erarbeiten, an denen wir dann hier in Zürich mit unseren Tänzerinnen und Tänzern weitergearbeitet haben. Die Choreografie ist also wirklich mit beiden Ensembles entstanden. Meiner Arbeitsweise als Choreografin kommt das sehr entgegen. Ich liebe es, mit ganz unterschiedlichen Besetzungen zu proben und zu sehen, welche unterschiedliche Energien verschiedene Künstler in die jeweiligen Rollen einbringen und ihnen so immer ungeahnte Ausdrucksnuancen abgewinnen. Es ist mir sehr wichtig, dass ein neues Stück nicht nur einem zentralen Paar, sondern dem ganzen Ensemble gehört. Deshalb freue ich mich auf viele weitere gemeinsame Produktionen mit dem Ballett Zürich und bin jeden Tag froh über die Gelegenheit, Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt zusammenzubringen, die meine Leidenschaft für das Erzählen von Ballettgeschichten teilen.
Das Gespräch führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 111, Mai 2024.
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